EIN FILM ALS PROZESS: ALIEN

„Ursprünglich haben wir einen Spielfilm geplant“, erzählt die 1989 in Linz geborene Filmemacherin Sybille Bauer-Zierfuß. Beim Casting zum Film lernte die diagnostizierte Autistin mit ADHS ihre beiden Co-Darsteller*innen kennen – und ließ sich auf ein barrierefreies Experiment ein, das nun am 25. November im Rahmen ihrer Retrospektive im METRO Kinokulturhaus zu sehen ist.

Sybille Bauer-Zierfuß forscht in ihrem Doktoratsstudium im Fachbereich Philosophie zum Thema Autismus und der Berichterstattung darüber in den Medien. Im Fokus ihrer Arbeit steht dabei eine schmerzhafte Ungerechtigkeit, die sich aus Historie von Hans Asperger, dem Erstbeschreiber des Asperger-Syndroms mit unrühmlicher Nähe zum NS-Regime ergibt. „Autistische Frauen und autistische genderqueere Personen – sowie auch andere marginalisierte autistische Gruppen wie autistische People of Colour – werden häufig spät diagnostiziert – mit negativen Folgen: Spätdiagnostizierte Autist*innen leiden häufig unter komorbiden psychischen Erkrankungen und haben ein höheres Suizidalität-Risiko. In der Wissenschaft entwickelte sich ein sogenannter Wissenschafts-Bias, das heißt Stereotypen wurden verfestigt und bestimmte Gruppen an Menschen von einer möglichen Autismus-Diagnose ausgeschlossen, ausschließlich aufgrund ihrer marginalisierten Position in der Gesellschaft. Das hat viel mit Asperger und seinen einst etablierten Ideen von Autismus zu tun. Er nannte Autismus eine ‚Extremvariante der männlichen Intelligenz, des männlichen Charakters‘.“

Von der Geburt einer Idee

„Ich habe mich nach meiner Diagnose gezielt mit anderen Autist*innen vernetzt und ausgetauscht. Irgendwann kam ich auf die Idee, einen Film über Autismus mit autistischen Kindern umzusetzen, die sich als Mädchen oder non-binär identifizieren“, erzählt sie von den Anfängen zum Film „Alien“. Beim Casting zum Film lernte sie ihre beiden Hauptdarsteller*innen kennen: Elsa Scheel (Pronomen sie/ihre) und Helena Paflik (keine Pronomen). „Wir teilen uns eine Diagnose, aber sind trotzdem unterschiedlich, wir sind Individuen. Ähnliche Erfahrungen verbinden uns, wir verstehen uns.“ Die derzeitige Gesellschaft ist ausgelegt auf eine gewisse Norm. In dem Projekt Alien haben Elsa, Helena und Sybille Norm(en) hinterfragt und Barrierefreiheit und Akzeptanz gelebt: „Es dauerte rund ein Jahr, dass die Kinder und ich uns ausreichend kennenlernten und wir anfangen konnten zu drehen. Wir hatten einen gewissen Plan – der Film wurde jedoch formal ganz anders als ursprünglich gedacht, zum Glück! Das Potential des Filmes kam erst dann zum Vorschein, als ich, Sybille, von meinen eigenen Vorstellungen komplett losgelassen habe. Vorstellungen, die ich selbst im Laufe meines Lebens internalisierte und durch den Film noch mehr zu hinterfragen begann.“

Als Spielfilm geplant, als Entdeckungswerk umgesetzt

„Mit Beginn der Dreharbeiten wurde klar, dass ich umdenken musste, nein, umdenken durfte“, schildert Sybille Bauer-Zierfuß. Das klassische Film-Set funktionierte nicht. „Und das war eine wertvolle Erkenntnis, die veranschaulicht, wie absurd die eigene Erwartungshaltung und die Enge der Vorstellung wie ein Film zu machen ist oder auszusehen hat eigentlich ist, selbst wenn man bereits denkt sehr ‚offen‘ und ‚frei‘ zu arbeiten. Und dabei ging es aber plötzlich mehr als nur um einen Film. Wir als Gesellschaft sollten überdenken, warum wir an gewissen Normen festhalten.“ So entschloss sich die Künstlerin, die Kinder die Gestaltungs-Entscheidungen treffen zu lassen. „Ich vertraute ganz auf die Ideen und Vorstellungen von Elsa und Helena.“ Den Anfang machte das neue Setting: Kamerafrau und Tonmann haben das Set verlassen, alle filmischen und kreativen Arbeiten wurden von den drei Autist*innen übernommen.

Neuer Zugang zum Film

In der konsequenten Ausrichtung aufs Wohl aller Beteiligten wurde der Hauptdrehort in die Wohnung von Sybille Bauer-Zierfuß und ihrer Ehefrau verlegt: „Wir haben anhand der Ideen von Elsa und Helena und mit der Unterstützung unserer Ausstatterin ein Zimmer neu ausgemalt und neu eingerichtet, um dem Abenteuer den passenden Raum zu geben. Und das war es wert!“ Die Zusammenarbeit auf Augenhöhe, der offene Umgang miteinander und das gemeinsame Erkunden dessen, was eigentlich selbstverständlich sein sollte, aber leider mehrheitlich nicht ist – all das machte die Dreharbeiten und damit den Film als Ganzes besonders. „Ob wir über die Barriere-Erfahrung Schule und Mobbing reden oder ich ein neurotypisches Kind spiele, während Helena über mich spricht wie normalerweise die Gesellschaft über Autist*innen – es steht immer Authentizität im Mittelpunkt.“ Dafür, dass die Fördergeber, die Abteilung Film der Stadt Wien und die Abteilung Film des Bundesministeriums für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport, die offene Gestaltung des Filmprojekts positiv unterstützt haben, ist Sybille Bauer-Zierfuß sehr dankbar: „Wir haben einen Raum geschaffen, einen Prozess entstehen lassen. Für uns ist es aber mehr als ein Film. Ich habe von Elsa und Helena viel gelernt, viel wieder erlernt, was ich im Laufe meines Lebens unter den Anstrengungen mich anzupassen, verloren, unterdrückt oder eben verlernt habe. Ich wünsche mir durch den Film zu mehr Sichtbarkeit, Aufklärung, Verständnis und Akzeptanz beizutragen.“

1 comments:

  1. Hi, ich würde mir den Film echt gerne ansehen, der Artikel hat mich sehr neugierig auf das Ergebnis gemacht. Ich wohne allerdings in Kärnten. Wird es eine Möglichkeit geben, dieses Werk auch außerhalb von Wien zu sehen zu bekommen?

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