Verzögerte Diagnosen von Autismus kommen häufiger bei Frauen vor als bei Männern. Das liegt unter anderem daran, dass die Kriterien zur Definition der Störung ursprünglich an männlichen Probanden ausgerichtet wurden. Aber auch die besonders großen Anstrengungen, die Mädchen und Frauen aufbringen, um das Anderssein zu verbergen, sind ein Grund. Sabine Josten aus Duisburg in Deutschland schildert im Interview ihre Erfahrungen – und wieso die Diagnose der beste Wendepunkt in ihrem Leben war.
„Mein Leben war geprägt von Überforderung, im Job wurde mir alles zu viel. Zwar nicht in fachlicher Hinsicht aber das ganze Drumherum eines stressigen Büroalltags: die vielen Menschen, der Geräuschpegel, die Dynamik – all das löste in mir eine starke Erschöpfung aus“, erzählt Sabine Josten aus ihrem alten Leben. Die Mittfünfzigerin aus Duisburg in Deutschland wurde erst vor zwei Jahren diagnostiziert: „Der Anlass war meine zweite Reha aufgrund meiner Depressionen und Erschöpfungszustände. In einer Gruppentherapie wurde mein Fall zum Thema – dabei habe ich eine Sozialphobie entwickelt. Ich wollte nicht mehr, dass über mich gesprochen wird.“ Diese negative Erfahrung wurde der Anlass für eine positive Wende: „Eine Assistentin hat mich oberflächlich auf ASS getestet und die Ergebnisse waren so eindeutig, dass ich mich auf eine offizielle Diagnose-Warteliste setzen ließ.“
Fehlendes Leben neben dem Job
Schon vor der offiziellen Bestätigung wenige Monate später erkannte Sabine die entscheidende Wende in ihrem Leben: „Ich habe Bücher über Autismus verschlungen und hatte das Gefühl, jetzt endlich eine Erklärung für mein ganzes Leben gefunden zu haben!“ Als Kind war sie unauffällig gewesen, immer brav, aber auch überfordert im Aufbau eigener Freundeskreise: „Ich war gern bei meiner älteren Schwester und ihren Freundinnen dabei, aber eigene Freundschaften zu pflegen fiel mir schwer.“ Mit ihrer zurückhaltenden Art erfüllte sie damit die gesellschaftlichen Rollenerwartungen an Frauen – und im Berufsleben gingen ihr die privaten Kontakte nicht ab, denn: „Nach der Arbeit war ich immer so erschöpft, dass ich nur noch das Nötigste erledigte und dann schlafen ging.“ Dass gerade diese für den weiblichen Autismus typische, besonders große Anstrengung der Anpassung tagsüber so viel Energie gekostet hatte, was Sabine damals nicht klar.
Auswirkungen der Dauerbelastung durch Maskierung
Zuletzt arbeitete Sabine in leitender Funktion als Immobilienökonomin. Den laufenden Kontakt mit Menschen empfand sie als kraftraubend, die fachlich anspruchsvolle Arbeit mit Finanzen hingegen nicht. „Mich hat immer das Drumherum überfordert. Ich musste immer eine Rolle spielen, mich anpassen. Wenn ich das nicht tat, führte das zu Problemen. Über dreißig Jobwechsel habe ich schon hinter mir.“ Eine besondere Herausforderung sei auch die Lärmbelastung gewesen. „Irgendwann habe ich auch schlechter gehört. Meine Theorie dazu ist, dass mein Kopf mich so vor dem Lärm schützen wollte.“ Erst die Diagnose und die anschließende Therapie brachten einen Wendepunkt in ihrem Leben.
Gamechanger Diagnose
„Es klingt vielleicht seltsam, aber die Diagnose war ein Gamechanger in meinem Leben. Und die Therapie – jetzt im zweiten Jahr – hilft mir massiv. Ich lerne mich gerade selbst kennen, im Therapiezentrum fühle ich mich verstanden und kann so sein, wie ich bin“, erzählt Sabine und strahlt dabei vor Freude. „Ich habe das Gefühl, dass mein Leben jetzt erst beginnt. Das zeigt sich schon in Kleinigkeiten.“ Ein Beispiel ist das Autofahren, das Sabine sehr anstrengt. „Früher haben meine Freundinnen das nie verstanden, vor dem Hintergrund der Diagnose aber schon.“
Natur und Wandern helfen
Besonders wichtig ist Sabine der Austausch mit anderen Betroffenen. Dazu hat sie eine eigene Selbsthilfegruppe gegründet. „Ich habe für mich entdeckt, dass es mir hilft, in der Natur spazieren zu gehen und die Gedanken schweifen zu lassen. Daraus habe ich ein Selbsthilfeangebot gemacht, das gut angenommen wird.“ Gemeinsam mit bis zu zehn anderen Betroffenen geht sie im Ruhrgebiet wandern („Aut-Walk“) und der Austausch kommt gut an: „Gerade in der Phase zwischen dem Verdacht und dem endgültigen Befund hängen die Betroffenen in der Luft, da hilft es zu reden! Aber auch sonst ist es einfach schön, mit anderen Autist*innen unterwegs zu sein: Da kann man sein, wie man wirklich ist – und auch Fragen stellen, die man sonst nicht stellen würde.“