BARRIEREFREIE KULTUR: EIN PROJEKT DER VBW

Jugendliche und junge Erwachsene mit ASS-Diagnose sehen sich mit dem Sprung ins Berufsleben mit besonderen Herausforderungen konfrontiert. Eine, die diese Situation zur Chance gemacht hat, ist die 23jährige Leonie Strahl. Sie arbeitet heute nicht nur in ihrem Traumjob als Lichttechnikerin bei den Vereinigten Bühnen Wien (VBW) im Raimund Theater, sondern trägt hier auch zu einem ganz besonderen Projekt bei: die Inszenierung von Andrew Lloyd Webbers Erfolgsmusical „Das Phantom der Oper“ speziell für neurodiverse Menschen.

„Leonie kam damals aktiv auf uns zu“, erinnert sich Psychotherapeut Mag. Alexander Köhler, Jobcoach bei der Österreichischen Autistenhilfe. Er und Leonie sind seit etwas mehr als zwei Jahren ein Team: „Sie war nach Wien gezogen, nachdem sie damals in Niederösterreich ein Studium begonnen hatte.“ Der Grund für den Wechsel: Die besseren Betreuungs- und Therapiemöglichkeiten in der Hauptstadt, für die Leonie sehr dankbar ist. „Ich war mit der Situation in St. Pölten überfordert. In Wien konnte ich sowohl in meinem Event-Engineering-Studium als auch beruflich besser Fuß fassen, nicht zuletzt dank Alex.“

Begleitung in der beruflichen Neuorientierung

Leonie arbeitete damals im Homeoffice für einen Sportverein aus ihrem Heimatbundesland Kärnten. „Da haben mir aber die Strukturen gefehlt, ich hatte keine Vorgaben und keine Ansprechpersonen“, berichtet sie von ihren Schwierigkeiten. „Alex hat mir bei der einvernehmlichen Auflösung des Arbeitsverhältnisses geholfen und mich bei der Neuorientierung unterstützt.“ Ihr Interesse galt schon immer der Bühnenbeleuchtung und dem Musical – insofern waren die Vereinigten Bühnen Wien ein perfektes Match! „Zum Glück wurde gerade eine Abendaushilfe in der Beleuchtung gesucht!“

Um hier die passenden Bedingungen zu schaffen, sollte der Assistenzhund Magic mit. „Anfangs war das ein Problem, aber gemeinsam mit Alex und der Abteilungsleitung wurde das besprochen und gelöst. Heute sind Magic und ich ein gewohntes Bild.“ Ein anderes Thema war die vom Theater gewünschte Stundenaufstockung nach dem erfolgreichen Studienabschluss im Sommer 2023, erinnert sich Alexander Köhler. Mit 30 Wochenstunden wurde ein für Leonie machbarer Kompromiss gefunden. „Diese Dinge persönlich zu begleiten und zu sehen, wie gute Lösungen entstehen, macht große Freude!“

Verständnisvolle Kolleg*innen

Was die Vereinigten Bühnen Wien besonders auszeichnet, ist für Leonie klar: „Ich fühle mich hier extrem gut aufgenommen, meine Kolleg*innen zeigen so viel Verständnis für meine Situation und meine Macken! Ich kann sogar einen kleinen Auszeit-Raum nutzen. Und auch mein Chef unterstützt mich, manchmal schützt er mich sogar etwas zu sehr.“ Mit diesem sensiblen Umgang werden optimale Bedingungen zur Integration geschaffen – leider noch kein Standard, wie Alexander erzählt: „Aufklärungsarbeit und Sensibilisierung sind extrem wichtig, die praktische Umsetzung ist aber eine Herausforderung. Da gibt es große Unterschiede bei den Arbeitgebern, oft ist das Umfeld schwierig: Stress und Hektik, Fluktuation und wechselnde Teams, Reizüberlastung durch Geräusche und Gerüche, das WC als einziger Rückzugsbereich – all das sind für Betroffene große Hürden. Mit dem Raimund Theater hat Leonie großes Glück!“

Kulturangebot für Betroffene

Wenig verwunderlich erscheint vor diesem Hintergrund die Initiative der Vereinigten Bühnen Wien, mit einer besonderen Vorstellung das Musical auch neurodiversen Theaterbesucher*innen zugänglich zu machen. „Da kam eine Kollegin auf mich zu, weil ich meine theoretische Bachelorarbeit zum Thema Neurodiversität und Lichttechnik verfasst habe – nach meiner praktischen Arbeit zu Veranstaltungen für Menschen mit ASS. Das ist noch ein ziemlich vernachlässigtes Thema.“  Die Idee fand bei Regisseur Seth Sklar-Heyn großen Anklang, nicht zuletzt, weil er selbst ähnliche Projekte am Broadway in New York und in Sydney bereits umgesetzt hat. „Mit den Videos dieser Vorstellungen hatten wir einen guten Leitfaden für unser Konzept.“

Viel mehr als nur reduzierte Effekte

Relativ klar war, dass Licht, Ton und Pyrotechnik an die Bedürfnisse des besonderen Publikums abgestimmt werden mussten, erzählt Leonie: „Ich mag Lichteffekte sehr gern und finde es spannend, wie Farben Emotionen vermitteln. Doch obwohl ich weiß, wann welcher Effekt kommt, nutze ich bei den normalen Shows Ohrstöpsel, um das zu dimmen. Für unvorbereitete, neurodiverse Zuseher*innen muss die Inszenierung also sehr sensibel umgesetzt werden.“ Und damit ist es längst nicht getan. Auch ein passender Rahmen sei erforderlich, weiß sie von ihrer praktischen Bachelorarbeit: „Zusätzliche, entsprechend geschulte Mitarbeiter*innen zur Betreuung, Ruhemöglichkeiten, die Ausgabe von Fidget-Toys – es sind viele Details, die eine Vorstellung für neurodiverse Menschen zugänglich machen.“

Herausforderung für das ganze Ensemble

Umgekehrt gehe es aber nicht nur um den Blick auf die Bühne – sondern auch um den in den Zuschauerraum, betont Leonie: „Die Schauspieler*innen sind nicht gewohnt, das Publikum zu sehen. Weil das Saallicht bei dieser Vorstellung nur gedimmt wird, muss man darauf vorbereiten. Auch dass gewisse Effekte als Orientierungspunkte in der Darbietung wegfallen, dass die Zuseher*innen lauter sind als gewohnt oder an verschiedenen Stellen anders reagieren, sind wichtige Details.“ Bei den VBW ist man jedenfalls auf das Feedback gespannt. Bei entsprechendem Erfolg sind derartige Relaxed-Termine jedenfalls erneut denkbar. Weil auch Kultur barrierefrei sein muss!

Der Termin für die relaxed Aufführung ist der 14. Juli 2024 um 14 Uhr.

Mehr über das Musical „Phantom der Oper“ im Wiener Raimund Theater

Mehr Informationen zum Jobcoaching der ÖAh

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.